Kaiserschmarrn für etwa dreißig hungrige Skifahrer auf einem Kohleherd mundgerecht zu zaubern und für ausreichend Nachschob zu sorgen, ist eine hohe Kunst. Weder Uhrzeit noch Temperatur lassen sich dabei einstellen. Allein ihr Auge und ihr sicheres Gefühl für den richtigen Augenblick schufen unvergleichliche Genüsse. Auch sonst war österreichische Hausmannskost ihre Leidenschaft. Ferienzeiten waren daher in ihrem damaligen Jugendgästehaus so gut wie immer ausgebucht. Schullandheimaufenthalte ergänzten das Programm.
Stammgäste blieben jahrelang treu. Bis heute zehren sie von ihrer Erinnerung an jenes alte Gebäude mit seinen Mehrbettzimmern mit Waschbecken und Etagenduschen mit Münzeinwurf, der heimeligen Atmosphäre im halbdunklen Flur mit brennenden Kerzen in Laternen, dem Sprüchekalender im Empfangsraum, dem Filzteppich auf der schmalen, steilen Treppe, dem Matratzenlager für Jugendliche unter dem Dach.
Mir blieb es immer ein Rätsel, wie sie es schaffte, dazwischen immer wieder Zeit für einen Plausch mit ihren Gästen zu finden. Für manchen, der einfach eine Auszeit brauchte, war sie eine regelrechte Seelenärztin. Ob sie sich Karteikärtchen mit Notizen machte oder ein hervorragendes Gedächtnis besaß, bleibt wohl ihr Geheimnis. Auffallend aber war, wie man nahtlos im nächsten Jahr, wenn man wieder zu Gast war, an alte Erinnerungen und Gespräche anknüpfen konnte.
22 Uhr war Zapfenstreich. Da wurde es im Haus still. Da war sie eisern.
Die letzten im Aufenthaltsraum mit seinen gepolsterten Holzbänken ohne Lehne richteten die Frühstückstische her mit Tellern samt Besteck, die Tassen umgestülpt, damit sie über Nacht nicht einstaubten. Ich kann mich in all den Jahren nicht erinnern, dass sie einmal morgens nachbessern musste. Die Frühaufsteher sorgten für Butter, Brot, Brötchen, Käse, Wurst, Marmelade, Eiern und dampfenden Kaffee- und Teekannen auf den Tischen. Sie brauchte die Küche nicht zu verlassen. Ihre Heinzelmännchen, darunter auch mich mit meinem jüngsten Sohn, hatte sie im Griff.
Doch wie auch anderswo fand diese Zeit einmal ihr Ende. Unter ihrem Sohn mit seiner Frau wurde aus dem früheren Jugendgästehaus ein modernes Gästehaus mit großem Anbau, sauberen, einfachen Zimmern mit Internetanschluss, Fernseher, Dusche, Waschbecken und WC, die jetzige Küche nach den heutigen Hygienegesetzen für Gäste tabu, Bequemlichkeiten, die auch ich mit meiner Frau bei unserem jährlichen Skiaufenthalt sehr zu schätzen weiß; schließlich wurden auch wir älter und unsere Kinder gehen schon längst als junge Erwachsene ihre eigenen Wege. Dennoch kommen wir gern hierher. Obwohl es nur für eine Woche im Jahr ist, fühle ich mich hier sofort zu Hause. Hier ist für mich ein Stück Heimat trotz unserer Aufenthalte in aller Welt. Mein Herz hängt immer noch an jenem alten Gebäudeteil mit seiner heimeligen Atmosphäre im halbdunklen Flur mit brennenden Kerzen in Laternen, dem Sprüchekalender im
Empfangsraum, dem Filzteppich auf der schmalen, steilen Treppe, und natürlich an ihr, der Seele dieses Ortes, für mich zumindest. Schon im Voraus freue ich mich auf eine Begegnung.
1992 erhielt sie die Verdienstmedaille des Landes Tirol. Da kann ich nicht mithalten. Doch wenn ich oben am Gipfel des Hahnenkamms Höfen bei Reutte / Tirol stehe, in die Weite des Außerferner Landes schaue und mit Andacht bewundere, welche landschaftliche Perle diesen Menschen hier geschenkt ist, weiß ich tief in mir drin, mein Diamant dazu wohnt im Tal: Marlies Reyman aus Höfen.